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Achtsamkeit bei Depression:

Wie sie dir helfen kann



Doris Kirch
Es ist wissenschaftlich gesichert: Achtsamkeit ist ein wirkungsvoller Weg zur Überwindung von Depression. Der Weg der Achtsamkeit kann ein Weg zu sich selbst und zur Heilung sein. Doch Achtsamkeit ist anders, als die meisten denken.

Was ist Achtsamkeit?

Die kürzeste und präziseste Definition für Achtsamkeit, die mir bekannt ist, stammt von meinem Lehrer Prof. em. Jon Kabat-Zinn: "Achtsamkeit bedeutet, in einer wertfreien und freundlichen inneren Haltung wahrzunehmen, was geschieht, während es geschieht".

Bereits diese kurze Definition weist auf etwas ganz Entscheidendes hin: auf die innere Haltung! Für die meisten Menschen ist Achtsamkeit nicht mehr, als die schicke Schwester von Aufmerksamkeit. Doch das ist nicht ganz korrekt. Wir brauchen Aufmerksamkeit, um Achtsamkeit zu erzeugen. Aber Achtsamkeit als solches ist eine Bewusstseinsqualität, die weit über pure Aufmerksamkeit hinausgeht. Achtsamkeit bedeutet, auf eine ganz besondere Weise aufmerksam zu sein.

Aufmerksamkeit und Achtsamkeit - ein bedeutender Unterschied


Ein achtsames Gewahrsein entsteht, wenn es fest in den sogenannten Haltungen der Achtsamkeit verankert ist. Diese Grundhaltungen sind:

  • Anfängergeist
  • Nicht-Urteilen
  • Akzeptanz
  • Nicht-Streben
  • Seinlassen
  • Geduld
  • Vertrauen
In der Achtsamkeitstrainer-Ausbildung fügen wir den klassischen Haltungen auch noch die folgenden hinzu:

  • Dankbarkeit
  • Mitgefühl
  • Humor
Achtsamkeit zu praktizieren und zu leben, bedeutet, sich an diesen geistigen Qualitäten auszurichten - sie sozusagen in sich selbst lebendig werden zu lassen und sie zu verkörpern.

Lies meinen Artikel über die Haltungen der Achtsamkeit im Achtsamkeits-Magazin des DFME »» 

Wie Achtsamkeit bei Depressionen helfen kann

Wodurch die besondere Wirkung von Achtsamkeit bei Depression entsteht

Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Achtsamkeitspraxis verschiedene Faktoren umfasst, die sich positiv auf depressive Symptome auswirken können:

  • Deutlichere Selbstwahrnehmung
  • Stärkung der kognitiven Flexibilität
  • Verringerung des Grübelns
  • Verbesserung der Emotionsregulation
  • Entwicklung von Akzeptanz
  • Verbesserung der Körperwahrnehmung
  • Reduktion von Stress
  • Förderung von Selbstmitgefühl

Deutlichere Selbstwahrnehmung

Menschliches Denken, Fühlen und Handeln geschieht zu 80 - 90 % unbewusst. Wir sind gesteuert durch eine Mischung aus evolutionären Überlebensmechanismen und im Laufe unseres Lebens erlernten Denk-, Fühl- und Handlungsmustern. Ferngesteuerte Bioroboter, wenn man so will.

Diese vollautomatische Grundfunktionalität wirkt sich schon bei einem gesunden Menschen an vielen Stellen verhängnisvoll aus - bei Depression untergräbt sie massiv das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Man fühlt, dass da etwas vor sich geht, weiß aber nicht was, geschweige denn, auf welche Weise man Einfluss auf das Geschehen nehmen kann.

Systematisches Achtsamkeitstraining fördert das Gewahrsein für die aus dem Unterbewusstsein wirkenden Denkweisen, Gefühls- und Handlungsmuster. Dadurch entsteht mehr Klarheit für eine momentane Situation und sie kann besser eingeordnet werden. Vor allem ermöglicht eine gute Selbstwahrnehmung es, zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, bevor sich zum Beispiel eine emotionale Abwärtsspirale in Gang setzt.

Stärkung der kognitiven Flexibilität

Hinter diesem schönen psychologischen Begriff verbirgt sich seine einfache, aber wirkungsvolle Tatsache: Man lernt, sich selbst beim Denken zuzuschauen und nicht alles ungeprüft zu glauben, was der Geist gerade so absondert. 

Durch Achtsamkeitsmeditation und die Fähigkeit der Selbstbeobachtung lernen die Praktizierenden, dass sie nicht ihre Gedanken sind. Sie erkennen gedanklichen Prozesse als temporäre Ereignisse, was sie davor bewahrt, sich mit ihnen zu identifizieren und von ihnen überwältigt zu werden.

Den destruktiven Gedanken bei Depressionen das Wasser abgraben


Auf diese Weise verbessert sich die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Perspektiven und Denkweisen zu wechseln, was mehr Handlungsoptionen eröffnet und das Gefühl von Selbstwirksamkeit stärkt. 

Wenn du lernst, dir selbst beim Denken zuzuschauen, erkennst du zunehmend die dysfunktionalen Denkmuster, die eine Depression gewöhnlich begleiten und aufrechterhalten. Dadurch kannst du deinem Denken eine andere, neue (depressionsfreie) Ausrichtung geben.

Verringerung des Grübelns

Grübeln (Rumination) ist ein zentraler Mechanismus bei Depressionen. Es gibt eine Menge Gedanken, die ausgesprochen nutzlos und sogar kontraproduktiv sind. Aber den Geist stört das nicht. Für ihn ist jeder Gedanke so gut wie der andere, um daran festzuhalten und ihn fortlaufend wiederzukäuen, als wenn sein Leben davon abhinge. Es reicht bereits ein einziger Gedanke, um den Stein ins Rollen zu bringen. 

Ein achtsames Gewahrsein erkennt die Kontexte, in denen solche Gedanken bevorzug entstehen. Es registriert sie direkt, wenn sie auftauchen und kann den Prozess unterbrechen, bevor er beginnt, auf Endlosschleife zu laufen und in einer emotionalen Abwärtsspirale zu münden.

Verbesserung der Selbst- und Emotionsregulation

Selbstregulation ist die Fähigkeit, sich selbst zu stabilisieren und anzupassen. Durch das Achtsamkeitstraining werden Selbstbeobachtung und Akzeptanz (auch die Akzeptanz schmerzvoller Emotionen) gefördert. Die dadurch entstehende innere Stabilität und Stärke ermöglichen es, in schwierigen Situationen bei sich zu bleiben, statt impulsiv und unbedacht zu reagieren.

Entwicklung von Akzeptanz

Akzeptanz ist die am meisten missverstandene innere Haltung der Achtsamkeit. Vereinfacht gesagt bezieht sich Akzeptanz nicht auf eine gesamte Situation oder darauf, wie jemand mit uns umgeht, sondern sie bezieht sich ausschließlich auf die Erfahrung des gegenwärtigen Moments.

Es sind vor allem die schwierigen Erfahrungen mit den Auswirkungen der Depression, denen gewöhnlich mit Widerstand und Abneigung begegnet wird. Zu lernen, die gegenwärtige Erfahrung anzuerkennen, führt zu einer inneren Entspannung und Entlastung. Sie macht den Kopf frei, um kluge Entscheidungen zu treffen und sich gut um sich selbst kümmern zu können.

Verbesserung der Körperwahrnehmung

Die Körperwahrnehmung steht in einem systematischen Achtsamkeitstraining bei Depression vor allem in den ersten Wochen im Fokus. Der Körper hat eine Weisheit, die der Verstand nicht kennt. Und er ist guter Stressdetektor, der uns augenblicklich darauf hinweist, wenn etwas nicht stimmt.

Achtsamkeit fördert die Wahrnehmung solcher Anzeichen und dadurch kann ein sich aufschaukelnder innerer Prozess frühzeitig erkannt und gestoppt werden. Der Körper wird durch die Achtsamkeitsübungen zum Verbündeten gemacht.

Auch die körperorientierten Mindful Moves unseres Achtsamkeits-Depressions-Programms Stärker als du glaubst dienen dazu, sich wieder wohler in seinem Körper zu fühlen, was die depressive Symptomatik deutlich entspannen kann.

Förderung von Selbstmitgefühl

Mitgefühl ist essenzieller Bestandteil der Achtsamkeitspraxis; es gibt keine Achtsamkeit ohne Mitgefühl. Selbstmitgefühl entsteht auf ganz natürliche Weise durch die Schulung eines achtsamen, mitfühlenden Bewusstseins. 

Gerade bei Depressionen spielt Selbstmitgefühl eine bedeutende Rolle, weil ein depressives Mindset oft von Scham, Selbstkritik und Schuldgefühlen begleitet wird. Mitfühlend mit sich selbst zu sein, bedeutet, sich selbst ein guter Freund zu sein und sich gut um sich zu kümmern.
Es gibt noch einen weiteren wesentlichen Aspekt, warum Achtsamkeit eine gute Hilfe bei Depressionen ist. Im Rahmen eines Achtsamkeitstrainings lernt der Praktizierende, den Fokus seiner Aufmerksamkeit gleichermaßen auf angenehme, wie auf unangenehme Erfahrungen zu richten und beidem die gleiche freundliche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.

Im depressiven Geschehen ist die Aufmerksamkeit oft auf all das beschränkt, was unangenehm, schwierig und belastend ist. Achtsamkeit weitet diesen engen Fokus und richtet ihn auf das Angenehme, Schöne und Nährende, das gleichzeitig immer auch vorhanden ist - und so oft übersehen wird. Dieser ausgewogene Fokus bringt mehr Weite und Leichtigkeit in die depressive Symptomatik.  

Achtsamkeit wirkt sich gleichermaßen auf die kognitive, emotionale und körperliche Ebene aus, deshalb gilt sie zu recht als ganzheitlicher Ansatz zur Hilfe bei Depressionen. 

Ein Achtsamkeitstraining kann ein wertvoller Therapiebegleiter sein, oder es kann die Zeit bis zu einem Therapiebeginn sinnvoll überbrücken. Die wichtigste Bedeutung hat die Achtsamkeitspraxis jedoch in der Unterstützung der Rückfallprävention depressiver Episoden. 

© Doris Kirch